Recherchieren, experimentell

Experimentell recherchieren

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Stefan Fuchs, der ehemalige Freund und Kollege von Chili, wohnt vorübergehend im Haus der Kellers und Wolfs. Sein eigenes Haus soll er aufgrund der gewalttätigen Drohung eines Einbrechers meiden. Wer #chilisiehtrot gelesen hat, weiß, dass er in dieser Familie in Ungnade fiel. Keine einfache Situation. Wie gestalte ich das Zusammenleben? Mit ständigem Streit? Nein, ich will den Lesern weder Langeweile noch schlechte Laune aufdrängen. Mir auch nicht. Wer lenkt ein? Klar ist, dass Stefan den Anfang machen muss. Denn er ist Gast, und Chili reagiert auf ihn so frostig, dass man von ihr kein Einlenken erwarten kann. Die Kinder schließen sich ihr an. Jan, Chilis Mann, gibt sich desinteressiert. Der Status Quo: ungemütlich.

Stefans Voraussetzungen sind seine Erfahrung und Vorlieben. Er ist Coach in der ökologisch orientierten Industrie. Zu seinem Haus gehört ein Garten, dem er sich ausgiebig widmet. Er pflegt ihn nach dem Konzept der Permakultur. Was kann ein ökologisch orientierter Mann der Familie für einen Waffenstillstand anbieten?

Zuerst überlegte ich, was ich zu Zeiten meines eigenen Ökogartens Passendes tat. Hauptsächlich war ich zwar mit meinem Job in der Stadt befasst, nebst Überstunden. Doch zum Ausgleich produzierte ich Sauerteigbrot aus Vollkornroggen und Joghurt sowie Frischkäse. Würde das auch zu Stefan passen? Ganz sicher, denn er ernährt sich bewusst gesund und nach den Prinzipien des Slow-Food-Trends.

Seit damals, vor fast 40 Jahren, hat sich die Ökowelt verändert. Weder erinnere ich mich an meine damaligen Praktiken, noch weiß ich irgendetwas über moderne Methoden. Also recherchierte ich im Internet. Und fand jede Menge Videos zum Backen mit Sauerteig. Schlagartig fiel mir ein ich, warum ich diese Art Bäckerei einst aufgab: viel zu kompliziert. Das Betreuen der Vorteige nervte. Dazu kam, man benötigte einen warmen Ort, wenn das Brot was werden sollte. Einen derartigen Platz besitze ich längst nicht mehr. Ich war unschlüssig. Ob die Familie solch bäuerliche Kost schätzt? Kommt drauf an, wie geschickt Stefan die Sache anfängt.

Weitersuchen. Gibt es neue Methoden, Sauerteigbrote herzustellen? Es müsste doch einfache Möglichkeiten geben. Obwohl es aussichtslos erschien, suchte ich nach einem einfachen Verfahren mit niedriger Temperatur. Tatsächlich wurde ich fündig. Youtube spielte mir ein Video von einem Bäcker in Schleswig-Holstein ein. Ein eigenwilliger Bäcker und Ernährungsberater. Er arbeitet mit einem flüssigen Sauerteig. Einen solchen Sauerteig stellt er im mehrstufigen Verfahren her. Hm, nix für mich. Mehrstufig ist für mich out. Halt, er bietet den fertigen Sauerteig für wenig Geld an. Ich bestellte. Zum Glück mahlt meine alte Getreidemühle wie eh und je.

Die Post brachte das Päckchen, und ich begann, damit zu backen. Zuerst mische ich das gemahlene Getreide mit Sauerteig und Salz. Nachdem ich die die flüssige Mehlmischung mit den wilden Hefen darin entnommen habe, fülle ich das Glas wieder mit Mehl und Wasser auf. Bis zum nächsten Backtag stelle ich es in den Kühlschrank. Nachdem meine Maschine den Teig 10 Minuten geknetet hat, fülle ich ihn in die Form oder den Gärkorb, wo er 24 Stunden reift. Das mit dem warmen Platz ist ein Märchen. Der Brotteig geht bei jeder Raumtemperatur gut auf. Kein Umstand mit Vorteig und Co. Inzwischen habe ich fünf Brote gebacken. Alle lecker. Aromatisch und leicht säuerlich. Anders als vom Bio-Bäcker. Gut fermentiert. Und Stoff für erste Gespräche am Tisch von Chilis Familie, wofür ich jetzt viel über alte Getreidesorten weiß. Die Videos dieses Bäckers sind so spannend und lehrreich, dass ich mir etliche angesehen habe. Er gestaltet sie als Experimente, nimmt einen dafür mit in seine Backstube.

Ich fing Feuer und erinnerte mich an den Joghurt, den ich vor gefühlt 100 Jahren ebenfalls herstellte. Also kaufte ich einen neuen Joghurtbereiter. Diese Milchspeise schmeckt köstlich. Ich denke, damit macht Stefan sich halbwegs beliebt. Außerdem schenkte mir die nette Dame im Reformhaus einen Kefirpilz. Das Getränk, das der Pilz aus Milch herstellt, ist anders. Es prickelt auf der Zunge – und macht süchtig. Gut für weitere Gespräche. Auch der Frischkäse daraus kann Stefan helfen, Interesse zu wecken. Er schmeckt lecker-cremig.

Meine Erlebnisse mit diesem Ökozeugs, wie Chili es nennt, geben eine gute Geschichte her. Für Auseinandersetzung und Annäherung. Sie bildet nun einen der kleinen Höhepunkte im Roman.

Wie ihr inzwischen wisst, schreibe ich nur über das, was ich kenne und beherrsche. Auch die kleinen Geschichten im Roman gehören ordentlich ausgearbeitet. Damit es Spaß macht, sie zu lesen. Krimis, die erkennen lassen, dass die Autorin an entscheidender Stelle kaum sachkundig ist, fliegen in die Ecke. Drüberweghuddeln kann ich nicht leiden.

Viele Autoren schreiben mehrere Romane pro Jahr. Egal, ob für einen Publikumsverlag oder als Selfpublisher.

Die Konkurrenz schläft nicht.

Nur Naive glauben, dass es keinen Marktdruck gibt.

Veröffentlichst du zu selten, bist du weg vom Fenster.

Solche Aussagen begründen die Hektik damit, dass man nicht in der Masse untergehen will.

Aber stimmt das so allgemein? Nein! Doch wohl nur, wenn ich mich an der Massenproduktion beteilige. Inzwischen hält KI in der Branche als Beschleuniger Einzug. Das Selbstverständnis mancher Autoren ändert sich. Wie ich finde, nicht zum Vorteil der Schriftstellerei.

Ich bedaure das und mache nicht mit. Die Zeit für Genauigkeit nehme ich mir. Manchmal brüte ich lange über einem Wort. Und wie in meinem Beispiel, lasse ich mich auf meine Figuren ein. Manchmal recherchiere ich Erfahrungen aus alten Zeiten, um sie auf den aktuellen Stand zu bringen. So geschehen für die Kutterfahrt in #chilisiehtrot. Auch die Reise nach Helgoland brachte neue Erkenntnisse, die ich nun im zweiten Band einarbeite.

Ich habe Vorlieben, Zuneigung und Abneigung. Manchen Menschen fliegt mein Herz zu. Andere ängstigen mich. Oder ihr Verhalten ärgert mich, stößt mich ab. Gehört das Persönliche des Autors in einen Krimi? Ja, unbedingt. Kann man vermeiden, dass es sich einschleicht? Nein! Warum auch? Bewusst in die Persönlichkeiten und die Geschichte aufnehmen, das ist der Weg.

Liebe und Sympathie trägt den Leser durch Phasen der Grausamkeit. Empathielosigkeit und Gewalt stößt ihn ab. Die Jagd auf den Täter lässt die Leserin mitfiebern.

Im Krimi wie in der Wirklichkeit können die Protagonisten sich in ihren emotionalen Reaktionen verirren. Obwohl es der Polizei um Fakten und Nachweise geht, haben Polizisten Gefühle, nicht anders als „normale“ Bürger. Manchmal ist der Umgang mit den eigenen Gefühlen für die Kommissare sogar schwieriger. Denn sie sind täglich mit den Opfern von Gewalttätern konfrontiert. Die Gerüche am Tatort und bei der Obduktion setzen manchen zu. Besonders, wenn es sich um Kinder und Babys handelt, wird Mitgefühl unerträglich. Auch die Wut und Verachtung gegenüber dem Täter markieren den Alltag der Kriminalbeamten. Das Jagdfieber setzt dem etwas entgegen, schafft eine gewisse Balance.

Subjektive Reaktionen, Emotionen und Fantasien des Autors gehören in den Roman hinein. Bitte reflektiert. Die Selbstreflektion im Sinne innerer Recherche lässt sich in die Erzählung einbinden. Als Eigenschaften bestimmter Figuren. Als Handlungen. Als Reaktionen auf Handlungen. Als Dialog. Das verleiht der Geschichte Tiefe.