Gemeinsam

Gemeinsam oder getrennt in verschiedenen Welten?

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Derzeit leben wir in kleinen Welten mit Hierarchie-Grenzen zu all den anderen Welten. Akademiker-Welt. Arbeiter-Welt. Wohngegend-Welten. Arbeitslosen-Welt. Flüchtlings-Welt. Wohnungslosen-Welt. Unternehmer-Welt. Politiker-Welt. Hartz4-Welt. Der Austausch zwischen den Welten ist arg geschrumpft. Konkurrenz, Verachtung, Belehrung, Angriffe, Kampf nehmen zu. Gemeinsamkeit finden viele im Gegen-etwas-Sein. Für etwas einstehen, das ist mein Favorit.

Unterschiedliche Welten in der Familie

In Chili sieht rot eskaliert der Streit zwischen Chili und Jan. Die beiden verstehen Chilis neuen Job als Polizeireporterin aus gegensätzlichen Perspektiven.

„Was ich nicht begreife, ist, warum du dich unbedingt in solch eine abwegige Geschichte reinhängen musst. Coaching ist doch viel angenehmer. Du hilfst Menschen, zufrieden zu werden und ihr Leben netter zu gestalten. Warum, zum Teufel, stehst du diese Durststrecke jetzt nicht durch? Das ist doch gar nicht deine Art, plötzlich alles hinzuschmeißen! Und es gegen derart Unerfreuliches einzutauschen.“

Chili antwortet Jan, indem sie ihn über ihre Coachingarbeit aufklärt. Die er nicht kannte.

„Es geht doch nicht darum, irgendeine Durststrecke zu überstehen. Erstens dauert diese Durststrecke jetzt bald zwei Jahre. Und zweitens ist Coaching längst nicht so angenehm, wie du zu glauben scheinst. Meine Klientinnen wurden gemobbt. Weißt du, was das heißt? Ich sag’s dir: Es bedeutet den Versuch, ihre Identität zu zerstören. Und ich hatte noch schlimmere Fälle als das. Eine Frau unterlag einem Tötungsversuch im Job, stell dir vor. Sie überlebte nur knapp. Eine andere musste mit ansehen, wie ihr Kollege erschossen wurde. Und ein weiterer …“

Jan unterbricht sie.

„Hör auf, das ist ja schrecklich! Chili, warum hast du mir das nie erzählt? Ich hätte dich doch trösten können.“

Chili sah Jan fassungslos an.

„Aber ich h a b e dir erzählt, dass meine Kundinnen ein schweres Schicksal hatten. Schließlich bin ich für die Arbeit mit Psychotrauma ausgebildet.“

Was war da los? Hatten sie kein Interesse aneinander? Haben sie zu wenig über sich gesprochen, ihre Nöte und Freuden nicht miteinander geteilt? Wie meistens leben Familienmitglieder in verschiedenen Welten. Jan ist Künstler. Er arbeitet in seinem Atelier zu Hause und befasst sich mit Farben und Formen. In seinen Bildern und Skulpturen drückt er sich, seine Stimmungen und Weltsicht aus. Eine schöne Arbeit, in die er sich gerne vertieft. Chili dagegen arbeitete mit Menschen, die zutiefst verletzt und verstört waren. Mit Menschen, die von Gewalt, Krankheiten und Unfällen betroffen waren. Die um ihr seelisches Überleben rangen. Zwei entgegengesetzte Welten. Wie kommt man da zusammen? Wie schafft man eine gemeinsame Welt, in der jeder nach seiner Neigung leben kann? Den fremden Arbeitsinhalt des Partners nachzuvollziehen, sich damit auseinanderzusetzen, fällt offenbar schwer.

Eskalation

Im ersten Schritt verstärken die meisten Menschen ihre eigene Perspektive. Streit entsteht. Man setzt sich im wahrsten Sinne auseinander, weit vom Partner weg. Dafür holt Jan sich Beistand. Ausgerechnet bei Chilis bisherigem Coachingpartner.

„Du scheinst dich ja schon richtig gut in den Pressejob eingearbeitet zu haben. Eigentlich bin ich gekommen, um dich um Hilfe im Coaching zu bitten. Es kommen immer mehr Anfragen von Interessenten bei mir an, die ich nicht alle annehmen kann. Deshalb dachte ich, dass ich sie an dich weitervermitteln könnte. Was meinst du?“

„(…) Und macht ihnen das psychische Probleme? Oder brauchen sie Unterstützung für die Kommunikation? Sind sie schwach darin, andere zu überzeugen?“

„Nein, du müsstest dich schon in die jeweiligen Arbeitsbereiche einarbeiten. Es geht ihnen um praktikables technisches und ökonomisches Vorgehen.“

„Du hast es wohl immer noch nicht akzeptiert, dass ich als Reporterin arbeite. Hast du Stefan zu diesem Blödsinn überredet? Meinst du etwa, ich könnte mich mir-nichts-dir-nichts mal eben in zwei komplette Studienfächer einarbeiten? Um Leute, die das jahrelang studiert haben, zu beraten? Und du Stefan“, sie wurde laut, „von dir hätte ich wirklich nicht erwartet, dass du dich darauf einlässt. Du bist doch selbst Coach und weißt, was das bedeutet! Verdammt noch mal!“

Als niemand Chili antwortet, verlässt sie das Haus und trifft sich mit ihrer Freundin Uschi beim Italiener. Dort entwerfen sie einen Plan, wie Chili am besten reagiert.

Auflaufen lassen und sein Ding machen

Den Plan setzt Chili am nächsten Tag um. Im ersten Schritt redet sie mit ihrer Vorgesetzten bei der Zeitung. Sie wünscht sich eine Festanstellung als Reporterin. Die bekommt sie, zunächst für 20 Stunden pro Woche. Mit der Option auf mehr. Zu Hause will sie schweigen, bis Jan von sich aus auf sie zukommt. Dicke Luft. Trotz ihres inneren Schweigegelübdes streiten sie öfters um des „Kaisers Bart“. Warum Jan nicht kocht, obwohl er dran ist. Darf Lea, die 16jährige Tochter bei der Freundin übernachten? Jan erlaubt es. Chili verbietet es. Daraufhin meint Jan: „Du darfst, ich kläre das mit Mama.“ Chili schläft nun nicht mehr im Schlafzimmer bei Jan, sondern allein in ihrem Zimmer. Doch mit den Tagen und Wochen vermisst sie verlorene Gewohnheiten

Gibt es keine Gemeinsamkeit, sobald man seinen eigenen Wünschen folgt?

Chili erinnert sich, was sie ihren Klientinnen geraten hatte. Geduld. Nicht alles, das Schlechte mit dem Guten zusammen in die Tonne treten. Abwarten, bis sie zum offenen Gespräch mit dem Partner bereit waren. Sie hatte immer betont: „Das spürst du dann.“ Okay, wartet sie eben auch. Derweil festigt sie ihre Stellung in der Redaktion. Ihr Ressort wird erweitert. Sie lernt Lebenswelten in der Stadt kennen, von denen sie bisher nicht einmal gehört hatte. Als sie sich ihrer Mutter anvertraut, lernt sie neue Seiten an ihr kennen. Sie kündigt ihr Coachingbüro, nachdem der letzte Klient sein Coaching beendet hat.

Den ersten Schritt macht Jan auf Chili zu. Ein Mann hat sie vor dem Zeitungsgebäude brutal angegriffen und verletzt. Ihr Mann holt sie aus dem Krankenhaus ab. Erstmals macht er ihr keinen Vorwurf. Akzeptiert er endlich ihre Entscheidung?

Gemeinsam mit allen Unterschieden

Ich glaube, dass wir die Zukunft gemeinsam so gestalten können, dass alle unterschiedlichen Menschen sich darin wiederfinden. Einfach, weil sie sich dafür einsetzen. Weil sie ihre Wünsche und Ansichten äußern können und sich gegenseitig zuhören. Weil sie mitreden und ihre Meinung genauso viel zählt, wie die aller anderen. Deshalb endet mein Krimi mit dem Märchen, das Chili mit einer Reportage auslöste.

Solche Märchen gibt es immer wieder mal.

Die Sturmflut am 16. Februar 1962. Damals war ich zwar erst 11 Jahre alt. Doch ich erinnere die unbeschreibliche Erleichterung, Freude und Tatendrang, das Schicksal zu drehen. Damals, als im Radio unsere Hoffnung auf Hilfe Wirklichkeit wurde. Helmut Schmidt hatte das Militär mit Sandsäcken an die Deiche geschickt. Die Katastrophe war abgewendet. Noch im Sturm begannen die Männer im Dorf, mit Elan die Bäume von Straßen und Wegen zu schaffen. Die Stromleitungen reparierten sie, während der Orkan noch tobte. Die Frauen backten Kuchen und kochten echten Kaffee.

Die Maueröffnung am 9. November 1989. Überbordende Freude an der Mauer. Auch ich ging mit meinem Mann dorthin. Noch heute besitze ich ein kleines Stück Mauer. Für mich ein Symbol für die Möglichkeit, Grenzen öffnen zu können.

Das Fußball-Sommermärchen vom 9. Juni bis 9. Juli 2006 in Berlin. Unglaublich schöne, herzerwärmende Stimmung in der Stadt. In der U-Bahn redeten wir miteinander, natürlich in Englisch, wie vertraut mit Unbekannten. Das Gefühl der Verbundenheit war überraschend stark. Obwohl ich mich für Fußball kaum interessiere.