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Regionale Romane leben vom Typischen der Region. Die Sprache, Alltag und Gewohnheiten sind seit Generationen eingeübt. Ein langer Prozess. Das kannst du dir nicht als Besucherin aneignen. Weil du es fühlen musst, von innen her. Und doch brauchst du die Distanz dazu, willst du das Lebensgefühl der Bewohner vermitteln.

Erzähle aus der Sicht der Figuren. Lass‘ sie sprechen! Berichte nicht ÜBER sie. Versetze dich in sie hinein. Je nach Generation, sozialer Schicht, und ob sie „Hiesige“ sind oder Zugereiste, leben sie unterschiedlich. Ihr Lebensgefühl unterscheidet sich. Ihre Reaktionen auf Ereignisse stößt Gesprächspartner vor den Kopf oder macht sie neugierig.

Soll die Geschichte plausibel wirken, schreibe ich über das, was ich erlebt und erlitten habe. Die Sprachfärbung in Bremerhaven und umzu trage ich in mir. Die Atmosphäre der Orte, an denen meine Figuren agieren, habe ich oft genug erlebt. Die subjektiven „Wahrheiten“ des Lebens und Sterbens in der Stadt. Meine inneren Filter zeichnen das Regionale als echt. Weil ich aus dieser Stadt und Gegend komme und hier lebe. Reicht das?

Nein. Denn in den 30 Jahren, die ich in Berlin und auf Reisen verbrachte, hat die Stadt sich verändert. Die Dörfer rundherum auch. Die Arbeitswelt verlangt nicht mehr nach lebenslangen Angestellten. Flexibilität herrscht vor. Viele Menschen zogen hierher, andere fanden anderswo einen Job. Manche kommen zurück, so wie ich. Selbstverständliches existiert noch, allerdings nur in kleinen Bubbles. Verständigung verlangt, sich verständlich zu machen. Das gelingt nicht immer, Streit folgt auf dem Fuße. Die Kriminalität wächst.

… sodass Leser aus anderen Regionen oder Ländern sich in sie hineinleben. Die regionale Färbung transportiert Gefühle: Sehnsucht, Abscheu, Liebe, Entzücken, Ungeduld, Ärger, Herzschmerz …

Fakten färben sich mit Gefühlen und Bindungen. Meinungen entstehen. Dies voneinander zu unterscheiden, wird nicht gelehrt, nicht in der Schule, nicht in der Ausbildung oder im Studium. Gute Romanautoren spielen mit den Prozessen zwischen Fakten, Gefühlen, Prägung, Meinung und Phantasterei. Fred Vargas treibt die Verwicklungen aus Fakten und mystischen Geschichten, virtuos auf die Spitze. Indem der Kommissar Spinnereien folgt, sich in den Fall hineinspekuliert, findet er die Täter. Natürlich mit Hilfe seiner Mitarbeiterin Retancourt, die übersinnliche Kräfte besitzt.

Sind Mythen, verschworene Deutungen einer Gruppe oder der Glaube an Übernatürliches, nicht auch Fakten? Sind Ideen und Denkweisen, durch die sich Menschen miteinander verbinden oder gar verbünden, etwa nicht faktisch Teil der Welt? Entsteht daraus nicht ständig Wirklichkeit? Schöne und erschreckende?

Vieles durchaus. Die Kriminalitätsrate, die häufigsten Delikte und die seltenen Verbrechen. Und auch, wie sich Kriminalität im Laufe der Jahre verändert hat. Überhaupt lassen sich Entwicklungen sehr gut im Internet nachvollziehen. Faktisch.

Welche Geschichte ich daraus mache, entscheidet sich mit meiner Vertrautheit der Krimiorte. Mit der Brille, durch die ich Ereignisse betrachte und bewerte. Im Internet recherchiere ich Fakten, Zahlen, technische Neuerungen, Stadtentwicklungsmaßnahmen und politische Entscheidungen. Auch wissenschaftliche Erkenntnisse. Denn Julia ist Meeresbodenforscherin. Und Lea tritt in Liebe gefährlich, Band 2, in die Fußstapfen ihrer Tante. Sie studiert jetzt in Bremen Klimawissenschaften, mit dem Schwerpunkt Wattenmeer.

Anfang April schippern meine Mann und ich nach Helgoland. Kurzurlaub. Ich freue mich darauf, die Insel, die ich häufig besuchte, wiederzusehen. Insbesondere wollte ich noch einmal ins Aquarium. Daher suchte ich im Internet die Adresse, um den Weg vom Hotel dorthin abzuschätzen. Kein Aquarium. Wie konnte das sein?

Online wurde ich fündig. Es ist abgerissen. An der Stelle baut das Alfred-Wegner-Institut für Polar- und Meeresforschung das Bluehaus, Ein spannendes Projekt, an dem die Gemeinde Helgoland sich beteiligt. Das ist geplant:

https://www.awi.de/ueber-uns/standorte/helgoland/bluehouse.html

Diese Ausstellung zum Mitmachen finde ich wunderbar. Dennoch: Es ist schade, dass das alte Aquarium dafür verschwinden musste. Was sagen die Inselbewohner dazu? Sind sie stolz, dass das AWI so innovativ plant? Bedauern sie den Verlust?

Auf der Insel hat sich einiges mehr verändert. Ausbooten, der Ausstieg vom Schiff ins kleine Boot zur Landung auf der Insel, ist nicht mehr. Jetzt geht man einfach vom Schiff aufs Land. Unspektakulär. Die Besucherzahlen sind enorm gewachsen. Schnelle Katamarane erlauben einen längeren Tagesaufenthalt. Die Zahl der Hotels ist ebenfalls gestiegen.

Wie werde ich Helgoland erleben? Zum ersten Mal als Urlauberin. In den 1960ern fuhr ich auf einer Klassenfahrt dorthin. Nach dem Abitur habe ich dort als Köchin das Geld für mein erstes Studiensemester erarbeitet und später Bildungsurlaub durchgeführt.

Ich habe (noch) keine Ahnung. Also werde ich doch ein wenig arbeiten, neugierig sein, Fragen stellen. Auf jeden Fall will ich die Polizeistation besuchen. Die Wasserschutzpolizei ist dort auch für polizeiliche Belange auf dem Land zuständig. Das kann man im Internet nachlesen. Aber was bedeutet das? Ich halte Sie auf dem Laufenden.