Trauma

TRAUMA. Er hat mich eingeholt. Der spinnerte Kommissar Lidot

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Raubüberfälle und Mord schockieren. Ich kenne niemand, der denkt, dass es ihn trifft. Bis es passiert. Keiner da, der mit dir redet. Menschen wenden sich ab. Du hältst es raus, weil du Freunde brauchst. Kapselst es ein, bis du es vergisst.

Es hält dich fest. Du ignorierst. Merkst es nicht mehr. Es drängt. Zur Oberfläche. Du hilfst dir. Schreibst Krimis. Darüber reden, heilt. Du erinnerst Geschichten. Ahnst nicht den Schmerz, der folgt. Der dich seit eh und je begleitet. Den du fürchtest und verlangst. Der dich zum Erzählen bringt. Der deine Verbindung mit der Welt flickt.

Verbrechen an Menschen. Zeugen und Angehörige im Schock. Zeit dehnt sich. Sie schauen wie durch eine Milchglasscheibe. Bruchstücke des Geschehens haften im Kopf. Finden ihren Platz nicht. Passen nicht. Keine Logik. Verwirrt. Wer traut ihnen? Sie können es selbst nicht. Traumatisiert.

Polizisten reagieren, wie wir alle. Behalten sie klaren Kopf? Ja. Das ist ihr Job. Ihr Mitgefühl mit dem Opfer und die Wut auf den Täter steigern das Jagdfieber. Bis zur Festnahme.

Wer von Gewaltverbrechen in der Zeitung liest, gruselt sich. Empört sich. Gern mit anderen. Und vergisst am nächsten Tag, was war. Ich auch.

Kriminalromane sind beliebt. Warum? Ah, die Spannung. Ermahnt man uns nicht: Entspann dich! Komm zur Ruhe! Nein, ich brauche Aufregung. Die Nacht durchlesen! Morgens beim Frühstück nachspüren. Falsche Fährten. Das eine Indiz, das den Erfolg beschert. Mittags kommst du zur Ruhe. Im Buchladen. Wo du einen neuen Krimi kaufst.

Gewalt regt auf. Mich. Dich? Krimileser. Nicht der Mord. Sondern das, was der Mörder in mir anrührt. Mitgefühl. Rache. Ich will ihn büßen sehen. Er soll leiden. Wie ich einst. Mit aller Wut, die in mir schlummert, wünsche ich das. Für mich. Für die Opfer.

Und wenn ich den Krimi schreibe? Regen mich die Delikte auf? Empfinde ich mit dem Opfer? Suche ich Rache? Fühle ich Wut? Ja. Ich bin eine Frau wie jede. Ich habe erlebt, was wir erleben. Die Gefühle ändern sich nicht, weil man sich für den Umgang mit Gewalt spezialisierte.

Unverhofft taucht er auf. Eines Morgens. Ich finde ihn spinnert. Seine Ideen. Die Lebensart. Wer hat Lidot nach Bremerhaven versetzt? Wer kommt auf sowas? Er behauptet, es war sein Wunsch. Warum? Was sucht er hier? Den Grund erfahre ich später. Als er redet. Über das Unglück. Bei dem er den Vater und seinen Großvater verlor. Das er überlebte. Kurz nach seinem zehnten Geburtstag. Seitdem braucht er das Meer. Die See mit ihrer Gewalt. Mit Wellen, die einen verschlingen. Ob Atlantik oder Nordsee. Das ist ihm egal. Dem Franzosen, der ein Deutscher ist. Und der er nicht ist.

Für Chili entpuppt er sich als harte Nuss. Wer sie kennt, wettet darauf, dass sie ihn knackt. Er sie ebenfalls.

Nicht direkt. Ich befasse mich ungern mit ihnen. Sehe ein, dass ein Krimi nicht ohne sie auskommt. Blöd, dass die meisten im Schock sind. Nach der Tat, traumatisiert, wie die Opfer.

Finde heraus, ob sie es waren. Der Einbrecher oder Mörder von heute handelt strategisch. Er hinterlässt kaum Spuren. Er zieht Handschuhe an. Wischt ab, was er berührt. Sichert die Haare unter der Mütze. Trägt eine Maske. Video ohne Chance.

Fasst die Polizei ihn, leugnet er. Schauspielert er? Oder ist das echt? Wirkt diese Taktik nicht, beschuldigt er das Opfer. „Sie hat mich provoziert.“ „Er hat mich betrogen.“ Oder bestohlen, mit der Frau geschlafen. Er windet sich raus. Manchem gelingt es.

Ausreden sind die Regel. Es ist nie passiert. Der Zeuge lügt. Der Tote ist selbst schuld. Man soll in die Zukunft schauen, das Gestern ruhen lassen. Es ist schwer, den Argumenten zu widerstehen. Erst recht, wenn es sich um eine Persönlichkeit handelt.

Wer beraubt oder verletzt wird, darf nicht auf Hilfe bauen. Nicht bei Kollegen. Nicht im Umfeld. Im Gegenteil. Denen man vertraut hatte, werfen einem vor, man lüge. Man habe fahrlässig gehandelt. Hätte es besser wissen können. Darf sich nicht wundern, hat provoziert.

Ein Kind verletzte die Mitarbeiterin der Jugendhilfe schwer. Die 13jährige stieß ihr ein Messer in den Rücken. Viermal. Knapp am Herzen vorbei. Die Heilung dauerte. Ständige Schmerzen. Schuldgefühle. Ein Jahr danach fasste sie Mut und kehrte an den Tatort zurück. Ihren Arbeitsplatz. Dort erlebte sie einen Schock. Den zweiten. Sie bat darum, die Tür zu ihrem Büro mit einem Schloss zu versehen. Sie brauchte Kontrolle. Dringend. Entscheiden, wen sie einlässt. Und wen nicht.

Abgelehnt. Stört die Arbeitskultur. Sie sei selbst schuld. Sollte in Zukunft aufpassen, wem sie den Rücken kehrt. Sie habe sich verrückt verhalten. Als der Rettungsdienst sie ins Krankenhaus bringen wollte. „Nicht ohne meine Handtasche“, habe sie gerufen. „Als wäre die wichtig. In solch einem Moment. Denk mal darüber nach, was das mit uns macht. Du bist nicht der Nabel der Welt!“

Sie verlor das Vertrauen. Zu sich. In ihre Kollegen und die Abteilung. Ließ sich versetzen. An einen Arbeitsplatz mit einem Schloss in der Tür. Fand Ruhe.