Recherche

Braucht ein Kriminalroman Recherche? Und wenn ja, wofür?

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Stell dir vor, du schreibst einen Krimi, aus dem Bauch heraus, ohne Recherche. Von Polizeiarbeit, Ermittlung und Indizien hast du keine Ahnung. Es fällt dir auf. Beim Schreiben. Du fragst dich, wie du an Infos kommst.
Okay, die Presseabteilung der örtlichen Polizei hilft dir sicher gerne weiter. Danach hast du ein Gerüst, aber kein „Fleisch“. Du kennst die Stimmung im Polizeiapparat nicht, wenn ein Zeuge wegen Unwetters zu spät für die entscheidende Aussage vor Gericht kommt. Du weißt nicht, wie lebendig der Fundort eines Mordopfers wirkt – im Widerspruch zum Toten. Du kannst die Zeichen der Beklommenheit und verhaltenen Wut bei der Obduktion eines zu Tode misshandelten Kindes nicht deuten. Lass es sein. Schreibe keinen Polizeikrimi. Wähle einen anderen Fokus.

Es kommt darauf an, worüber du schreibst

Denken wir einmal an die unnachahmlichen Kriminalromane von Fred Vargas. Ihr skurriler Kommissar Jean-Baptiste Adamsberg löst Kapitalverbrechen in Paris auf seine irrwitzige Art und Weise, die man sich nicht ausdenken kann. Er agiert eigenwillig. Doch dieses Wort ist viel zu schwach, um seinem Charakter gerecht zu werden. Er stammt aus einem kleinen abgelegenen Dorf in den Pyrenäen. Als Leiter des Kommissariats ermittelt er in Paris. Den Gegensatz dieser beiden Orte schlachtet Vargas aus. Muss man für einen Plot mit solch einem „esoterischen“ Protagonisten recherchieren? Und wenn ja, wie und wo? 

Wenn der eigene Beruf des Autors die Recherche ist

Eine Figur wie Adamsberg ist eine der schwierigsten Persönlichkeiten, die man ins Leben rufen kann. Das bedeutet, dass man für solch komplexe Gestalten psychologisch-kulturelles Knowhow benötigt. Fängst du bei null an, wirst du Romane, wie die von Vargas, nicht plausibel schreiben können. Wie macht sie das?

Fred Vargas ist das Pseudonym für Frédérique Audoin-Rouzeau, Jahrgang 1957. Sie studierte die Geschichte des Mittelalters und nahm an zahlreichen Ausgrabungen teil. Sie arbeitet in Forschung und Lehre als Archäologin an einem bedeutenden französischen Forschungsinstitut.

Die Autorin besitzt also einen Beruf, der die Fantasie lenkt: Wie könnte das Zusammenleben und -sterben in früheren Zeiten ausgesehen haben? Sie kann sich zur Ausgestaltung ihres Monsieur le Commissaire Adamsberg unter anderem auf archäologische Erkenntnisse stützen. Eine großartige Kombination, die ihre Krimis so lebendig erscheinen lassen: Mittelalterliche Kombinationsgabe als Erfolgsfaktor im modernen Paris.

Wenn der Beruf schon immer SCHREIBEN heißt

Etliche Autorinnen und Autoren schreiben, weil sie es schlicht lieben, zu schreiben. Liaty Pisani ist so eine Schriftstellerin. Sie schreibt Spionageromane. Dafür recherchiert sie Ereignisse der Zeitgeschichte.

Liaty Pisani, 1950 in Mailand geboren, fand mit 13 Jahren, dass sie schreiben wollte, sollte, musste. Ihr erstes Buch wurde ein Gedichtband (Il mondo nasce e io l‘ amo). Nach weiteren Gedichtbänden und Romanen begann sie, 1991 Spionageromane zu schreiben. Die Legende sagt, dass Spionin ihr alternativer Berufswunsch gewesen sei. Dieser ihr dann jedoch als zu gefährlich erschien und sie ihn ad acta legte.

Liaty recherchiert akribisch. Ihr Roman Das Tagebuch der Signora (2007, Diogenes) beweist dies. Und mit dem Spion Ogden (zum Beispiel „Schweigen ist Silber“, 2000 bei Diogenes) schuf sie eine schillernde Figur: hart, kultiviert, eitel, instinktsicher, sanft.

Wenn die Grundlage für Krimis die Liebe des Autors zur Gegend ist

Regionalkrimis sind beliebt. Wer seinen Kriminalroman dort ansiedelt, wo er oder sie lebt, hat viel gewonnen: Man kennt sich aus und spricht meist die Sprache der Menschen dort. Recherchieren lässt sich so ziemlich alles vor Ort.

Geradezu berühmt wurde Donna Leon (Diogenes) mit ihrem Commissario Guido Brunettidessen Kommissariat sie in Venedig ansiedelt.

Donna Margaret Leon, Jahrgang 1942, ist eine US-amerikanisch-schweizerische Schriftstellerin. 2020 wurde sie Schweizer Staatsbürgerin. Sie studierte englische Literatur. In Perugia und Siena unterrichtete sie die Englisch und ihr Fach. Sie arbeitete als Reisebegleiterin in Rom. Später unterrichtete sie an amerikanischen Schulen in der Schweiz, im Iran (bis 1979), in China und in Saudi-Arabien. Die Autorin lebt in Venedig und in der Schweiz.

La Serenissima, wie Venedig auch genannt wird, bildet die Kulisse für Leon‘s Krimi-Reihe. Italien ist ein Traumland, eine perfekte Kultur, in der sich Kriminalität, mediterrane Genussküche, Korruption und Einzelgängertum bei der Polizei aufs Schönste verbinden lassen.

Das dachte wohl auch Andrea Camilleri, als er seinen Commissario Montalbano schuf. Der Kommissar, ein genießerischer Fischliebhaber, der den Duft des Meeres beim Essen erschnuppern will und dabei kein Tischgespräch duldet. Er kultiviert weitere Ticks, wie seine Mitarbeiter ihre. So berät er sich in schwierigen Fragen mit einem alten Olivenbaum. Trickreich jongliert Montalbano in Koexistenz zwischen Gesetz und Mafia. Fast unbemerkt beginnt der Leser die karge Landschaft, das sizilianische Meer, leidenschaftliche Streitigkeiten und die Trattoria San Calogero zu lieben. Und den fiktiven Ort Vigáta natürlich.

Andrea Camilleri, Jahrgang 1925, in Sizilien geboren, wurde Schriftsteller, Drehbuchautor und Regisseur. Er lehrte zig Jahre an der Accademia d’arte drammatica Silvio D’Amico in Rom. Sein wichtigstes Stilmittel ist der Dialog. Er füllt die Seiten und erzeugt Spannung durch Kontraste: Wechsel von Absprachen und Alleingängen. Härte des Gesetzes und Respekt gegenüber Verbrechern. Liebe, Streit und Versöhnung. Genuss und Verzicht. Mitgefühl und Verachtung. Versprechen und Lüge. Kein Wunder, dass sein Werk vielfach ausgezeichnet wurde.

Weitere Zutaten machen einen Kriminalroman rund

Aus den genannten Beispielen lässt sich folgern, dass der eine zentrale Fokus nicht reicht. Weder die umfassende Kenntnis einer Region noch psychologische Hintergründe noch allein die Schreibkunst. Hinzukommen muss zwingend Beobachtungsgabe, verbunden mit Einfühlungsvermögen und Fantasie. Wer Menschen beobachten kann, ohne zu urteilen, lernt, ihre Motive zu verstehen. Wer eine offene Fragetechnik, wie die W-Fragen, beherrscht, recherchiert leichter. Für all das braucht man kein Psychologiestudium. Widersprüche und Irrtümer sind menschlich und lassen sich erkennen. Daraus entwickeln sich Dramen. Besser gesagt: Daraus entfalten Krimiautoren ihre Dramaturgie, ihren Plot. Im Verein mit ihrer Vorstellungskraft.

Glücklich die Autorin, die alles mitbringt

Da ich inzwischen 73 Jahre alt bin, hatte ich ausreichend Gelegenheit, diese Quellen zu erleben und zu ergründen. Ich schreibe über Reaktionen auf traumatisierende Ereignisse der Zeit: drohendes Verbot der Krabbenfischerei, sexuelle Übergriffe, Klimakrise, organisierte Kriminalität, Mord, kultureller Umgang mit dem Mangel (Personal, Ausstattung) bei der Polizei. Die Polizeikultur habe ich in der Feldforschung im LKA erlebt. Hier könnt Ihr nachlesen, was ich herausfand:

Trotz meiner Forschung steht in den Kriminalromanen mit Chili die Polizeiarbeit nicht im Mittelpunkt. Mir geht es um Zusammenhänge, um die Entwicklung: Wie verändert das Delikt die Beteiligten und die Menschen schlechthin in der Region? Wir fürchten zwar jegliche Veränderung. Dennoch verändern wir uns ständig. Sobald uns ein Ereignis im Umfeld erschüttert, Lebenspläne umzuwerfen droht, reagieren wir darauf. (Eine Teuerung, Verlust von Arbeitsplätzen, Kriminalität, die Klimakrise …) Wir wandeln uns. Und häufig nicht in die wünschenswerte Richtung. Manchmal aber doch, zumindest in meinen Krimis.